Offener Brief an blueflidge
Ein Bärenherz für Kinder
Der Tod eines Kindes vereint Eltern, Verwandte und Freunde. Kurz bevor es zu Ende geht, wird es still im Kinderhospiz Bärenherz, einem Mehrfamilienhaus in einer Wiesbadener Wohngegend.
Nicole P. sitzt im Gemeinschaftsraum, eine weitläufige offene Küche mit großem Esstisch, daneben eine Kuschelecke aus Polstern und Kissen. 14 Uhr, Übergabe der Frühschicht: Sechs Pflegerinnen schauen in ihre Notizbücher. „Julien ging es heut nicht gut, er hatte Bauchschmerzen“, sagt Antje I. „Ich habe ihm mit Salbe den Bauch massiert, den ganzen Vormittag.“
Gespräche sind so wichtig wie die Pflege: Im Kinderhospiz Bärenherz.
Nicole P. malt einen traurigen Smiley hinter Juliens Namen in ihr Notizbuch. „Ich würde mich heute gerne um Luca kümmern“, sagt sie. Luca hat eine Stoffwechselkrankheit, die immer wieder epileptische Anfälle auslöst. Sechs Mal am Tag bekommt er Morphinspritzen, die seine Schmerzen lindern. Im Augenblick scheint es ihm gut zu gehen, er räkelt sich in der Kuschelecke und schaut zur halbrunden Fensterfront hinauf, die Kinder mit blauer, roter und gelber Fingerfarbe bemalt haben. Neben den bunten Kringeln und Klecksen stehen ihre Namen: Zoey und Lana, sieben Jahre alt.
Jedes Jahr sterben hier etwa acht Kinder. Kurz bevor es mit ihnen zu Ende geht, wird es still im Kinderhospiz Bärenherz, einem Mehrfamilienhaus in einer Wiesbadener Wohngegend. „Die anderen Kinder spüren, wenn der Tod naht, und verhalten sich ruhig und sind besonders lieb“, erklärt Nicole P.
Der Tod eines Kindes vereint Eltern, Verwandte und Freunde. In der Trauer sind sie einander eng verbunden. Sie kommen, um sich von dem Kind zu verabschieden. Kerzen vor dem Zimmer sind stille Zeugen des Todes. Ebenso das brennende Windlicht im Eingang oder die Trauerkerze im Fenster.
Doch da ist nicht nur Stille. Der kleine Sarg wird von vielen Händen bemalt, auch kranke Kinder malen mit, während die Lieblingsmusik des gestorbenen Kindes erklingt. Man singt gemeinsam, redet, lacht und weint. Alles ist erlaubt, alles darf sein. „Nach der Beerdigung legen wir ein Stofftier, das uns an das verstorbene Kind erinnert, ins leere Bett. All diese Rituale helfen auch den Kindern, keine Angst vor dem Tod zu haben.“
Luca ist sofort hellwach
„Hallo, mein Großer“, sagt Nicole P. zur Begrüßung des Pflegekindes, das sie heute unter ihre Fittiche nehmen wird. Luca erkennt ihre Stimme und jauchzt. Seine feuerroten Haare stehen zu Berge. Zwischen seinen angewinkelten Beinen steckt eine Kissenrolle, die ihn stützt. Die Hände sind verkrampft, wie Krallen. Ein Schlauch, der durch seine Bauchdecke in den Magen führt, ernährt ihn.
Eine blonde junge Frau kommt ins Wohnzimmer, in der Hand eine Tasche, in der es geheimnisvoll rappelt. Julia I. ist Physiotherapeutin und kommt regelmäßig ins Hospiz. „So, Luca, heute bist du dran mit Turnen“, sagt sie, setzt den Kleinen in seinen Rollstuhl und schnallt ihn an. Auch sein Kopf wird gestützt, denn er kann ihn selbst nicht hochhalten. „Zwei Jahre haben die Eltern bei den Krankenkassen gekämpft, um so einen Rollstuhl zu bekommen“, sagt die Therapeutin und schiebt ihn in sein Zimmer. Dort holt sie eine Pappkiste, zur Hälfte mit Kastanien gefüllt, aus ihrer Tasche und taucht Lucas nackte Füße hinein. Sein Kopf kullert wild hin und her, während er über die Kastanien strampelt, die Augen rollen. Luca jauchzt. „Er mag es, wenn er sich spürt“, sagt die Therapeutin. Doch die Turnerei strengt das kranke Kind sehr an. Vor Aufregung hat er in seinen Rollstuhl gemacht, und bald darauf schläft er in der Kuschelecke ein.
Medizin für Luca.
„Na du Pissnelke, hast du in deinen Porsche gepinkelt“, ruft es quer durchs Hospiz. Luca ist sofort hellwach. Er strahlt und weiß, das ist seine Mama. Sandra D. ist 33 Jahre alt, klein, stämmig. Sie wirbelt durch das Wohnzimmer, begrüßt alle Pflegerinnen mit Küsschen und wirft sich neben ihren Sohn in die Kuschelecke. „Na, mein Knuddel, Mama ist da. Heute wird wieder ganz viel geknutscht.“
Bei Lucas Geburt sagten die Ärzte, er sei kerngesund. „Aber schon in der Schwangerschaft hatte ich gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Mir war ständig schwindelig und schlecht.“ Kurz nach der Geburt hörte Luca plötzlich auf zu atmen, lief blau an. Die Mutter drückte den Alarmknopf so fest, dass er in ihren Fingern zerbrach. Schließlich kam die Bettnachbarin herein, schüttelte das Neugeborene, bis es wieder atmete. Erst ein Jahr später fanden Ärzte der Mainzer Uniklinik heraus, dass Luca eine schwere Stoffwechselkrankheit hat. „Sie sagten, dass er nicht mehr lange leben wird.“
Für Eltern ist eine Sozialpädagogin im Haus
Danach begann eine Zerreißprobe für sie und ihren Mann, aber auch für Lucas Geschwister, die zehnjährige Laura und der achtjährige Marco. „Lucas Pflege nahm meine volle Zeit in Anspruch. Ich konnte nicht mehr für meine anderen Kinder da sein“, sagt die Mutter. Eine Freundin erzählte ihr vom Kinderhospiz Bärenherz: „Dreimal stand ich auf dem Parkplatz. Jedes Mal bin ich bei dem Gedanken, mein Kind hier abzugeben, wieder weg gefahren.“ Irgendwann traute sie sich und ging hinein. Laura und Marco begleiteten sie.
Wenn Geschwister von kranken Kindern zu Besuch ins Bärenherz kommen, werden sie als besondere Gäste behandelt. Die 29-jährige Erzieherin Kerstin L. kümmert sich um sie: „In einer so schwierigen familiären Situation stellen die Geschwister ihre eigenen Bedürfnisse aus Rücksicht vor den Eltern zurück und leiden oft heimlich.“ Deshalb redet sie mit ihnen über ihre Probleme, manchmal an einem neutralen Ort. Marco hat ein Lied von Xavier Naidoo ausgesucht, das zu Lucas Beerdigung gespielt werden soll. „Was wir alleine nicht schaffen, dass schaffen wir dann zusammen“, heißt es darin.
„Hier im Bärenherz habe ich neue Freunde gefunden“, sagt Sandra D. „Die anderen Eltern verstehen mich. Wir unternehmen viel zusammen und können über alles reden.“ Lucas Vater flüchtet oft zu seinen Fußballfreunden . „Sie lenken ihn ab.“ Zeit für sich haben die jungen Eheleute kaum: „Wir haben noch einen Gutschein zum Brunchen. Der ist zwei Jahre alt.“
Für die Eltern ist eine Sozialpädagogin und Trauerbegleiterin im Haus. Mit ihr können sie über alles reden, auch über Beerdigung, Formalitäten und Behörden. Bezugsschwestern im Hospiz sind auch für die Mutter da. Sie unterstützen sie in der Pflege ihres Jungen und reden mit ihr über ihre Probleme und Sorgen. „Ich höre Sandra einfach zu. Das ist es oft, was sie braucht“, sagt Nicole P. Sandra wünscht sich, dass Nicole auch da ist, wenn Luca stirbt.
"Man stumpft nicht ab"
Angst hat die Mutter, dass nach Lucas Tod ihre Familie zerbricht. „Mein Mann hat schon mal dumme Dinge gesagt. Aber ich, ich darf mich nicht umbringen, ich muss sie alle auffangen.“ Wenn ihr die Situation über den Kopf wächst, schließt sie sich im Bad ein. Mit einer abgebrochenen Flasche schneidet sie sich in die Arme oder in den Bauch. „Wenn es blutet, bin ich für einen Moment zufrieden.“ Marco und Laura stehen dann vor der verschlossenen Tür und flehen, sie soll sich nicht zu sehr wehtun. Im Hospiz spricht Sandra D. mit einer Psychologin darüber.
Nicole P. kommt herein, um ihr zu helfen, Luca ins Bett zu bringen. Plötzlich verkrampft der ganze kleine Körper. Luca zieht die Arme an und würgt, schnappt nach Luft. „Das sind solche Momente“, sagt die Mutter und greift nach der Hand des Jungen. Der reißt die Augen auf, zuckt und würgt. „Den Schlauch ab!“, sagt die Pflegerin. Die Mutter entfernt die Ernährungssonde. Die Mahlzeit schießt aus dem Schlauchende, das aus seinem Bauch hängt, heraus. Er erbricht sich. „Er hat zu viel Luft im Bauch, gleich wird es wieder besser“, sagt Nicole P.
„Ewig kann ich diesen Beruf nicht machen“, weiß Nicole P. „Es trifft mich immer sehr, wenn ein Kind stirbt. Man stumpft nicht ab.“ Trost sucht sie bei ihrer besten Freundin oder in der eigenen Familie. Ohne diesen Halt könnte sie es nicht ertragen. Und: „Seit ich diesen Beruf ausübe, ist der Gedanke an eigene Kinder in weite Ferne gerückt.“
Sandra D. steht an Lucas Bett und streichelt seine Wange. Er schließt die Augen und genießt die Zärtlichkeit. Eines, sagt sie, habe sie von ihm gelernt: „Ein Tag ist manchmal wichtiger als ein ganzes Leben.
Solche Kinder wurden von Dir betrogen, solche Menschen von Dir geschädigt. Keiner von denen die heute dort sind wird morgen da sein um von Deiner Schande zu erfahren.Sie nehmen es mit an einen besseren Ort, um dort darüber zu berichten.
Wir wünschen Dir alle ein frohes besinnliches Weihnachtsfest und mehr Glück als es diesen kleinen Menschen beschieden ist.
t42 ,im Namen aller Thinkpad-Forum Mitglieder